Der freie Wille
Nun will ich wirklich nicht so tun, als würde ich diesen Stirn- oder Schläfenlappen so gar nicht kennen, schließlich gehört er ja zu meinem Königreich, aber bisher nicht gerade zum Adel, viel öfter zu den Knechten. Jedenfalls kann ich mir das an ein paar Synapsen abzählen, wie oft der sich überhaupt mal bemerkbar gemacht, geschweige denn was Vernünftiges beigetragen hat.
Aber am Samstag auf der Feier? Wie kommt ein solch lascher Lappen dazu, mir in den Rücken zu fallen und im bereits weit fortgeschrittenen Lauf der Dinge noch das Steuer herumzureißen? Mir noch im letzten Moment Vernunft aufzuzwingen? Das sieht doch verdammt nach freiem Willen aus! Aber hier kann doch nicht jeder machen, was er will!
Eines muss ich zugeben: Mein Mensch hat eine liebe Algorithma, zwei süße Klein-Algorithmen, eine famose Behausung und einen guten Job. Er hat im Grunde alles, was man so landläufig anstrebt. Ein bisschen spießig allerdings, fehlt nur noch der Gartenzwerg im Vorgarten. Wäre da nicht so ein kleines spontanes Abenteuer gerade das Richtige gewesen? Ich habe doch bereits himmlischer Erwartung halber in Belohnungssubstanz geradezu gebadet! Was habe ich nicht alles versucht, habe ihm die junge Algorithma noch attraktiver und anschmiegsamer dargestellt und die Chancen eines eventuellen Entdecktwerdens bis auf null heruntergefälscht. Und dann dieser Rückzieher! Wie schade! Das tut richtig weh!
Dabei habe ich einen ganz bösen Verdacht: Der Lappen muss aufgerüstet und mich durchschaut haben, meine hinterhältige Strategie und meine doch so perfekte Illusion. Mit seinem bisher unscheinbaren Stirnhirn erarbeitet er sich plötzlich eine eigene Realität, gegründet auf Vernunft und Fakten, unabhängig von meinen Fälschungen. Dieser nunmehr intelligent gewordene Frontallappen ist viel näher an der objektiven Realität, als ich es mit meinen völlig veralteten Programmen je sein könnte. Leider gilt für mich seit Menschengedenken immer noch: Hier bin ich, mache Mist und kann nicht anders!
Wie stehe ich denn nun da? Als primitiver Realitätsverdreher, Lügner und Manipulierer! Zum Verrücktwerden! Meine erste Regung war natürlich, ihm das heimzuzahlen – also noch mehr fälschen, noch mehr hinters Licht führen? Einen Krieg um die Realität? Hier ich, mit meinen Millionen Jahre alten nicht mehr zeitgemäßen Programmen und meiner verdammten Abhängigkeit vom seelischen Pegel, dort die mit jeder Erfahrung und Einsicht wachsende Performance dieses cleveren Stirnhirns? – Keine Chance. Zum Glück hatte ich einen guten Tag und habe mich noch besonnen. Ich will ja nicht wirklich einen offenen Krieg Autopilot gegen Verstand, wo wir doch im gleichen Boot sitzen. Ich habe mich also entschlossen zu kooperieren und die Impulse dieses Spielverderbers fortan ernster zu nehmen und stärker zu berücksichtigen. Es ist ja nicht so, dass ich nicht weiterhin das Heft in der Hand behielte. Glaube ich jedenfalls. Früher waren das seltene Ausnahmen, wenn ich den Lappen mal ein bisschen habe mitspielen lassen.
Wenn es mal hart auf hart ging, hätte ich es früher nie zugelassen, dass dieser Lappen mir dazwischenfunkt und sich in meine Entscheidungen einmischt, aber heute? Wenn mein Mensch genügend seelische Energie erwirtschaftet hat und im seelischen Gleichgewicht ist, dann kann ich ihm doch mit Fug und Recht auch ein bisschen Vernunft und im engen Rahmen auch ein wenig freien Willen zugestehen.
So ganz frei ist dieser Wille ja sowieso nicht, denn was heißt schon frei? Auch ein noch so freier Wille kann nicht aus seiner Haut heraus. Denn was will er denn? Doch wieder mehr Spielraum, um an seelische Energie zu kommen, vielleicht auf intelligentere Weise, als ich es könnte, und weniger durch schiere Dummheit verlieren. Deshalb hat er mich bei meinem Drang zum Techtelmechtel so krass ausgebremst: Wegen der Spätfolgen. So weit hätte ich im Eifer des Gefechts nie und nimmer gedacht.
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