Ritter Sigwarts irre Reise in sein „Ich“
Jung-Ritter Sigwart, herein mit Euch! Der Hofmeister führt ihn vor die Tafelrunde und der König gibt zu wissen: Wir sind einer zu wenig und die Chance ist auf Euch gefallen.
Auf mich? Sigwart in freudiger Erregung: Kein Haken an der Sache? Na ja! Als Jung-Ritter bereits durch Tüchtigkeit aufgefallen, aber doch noch zu wenig erfahren. Nur im Bewusstsein dessen, wozu er fähig sei – und wozu nicht – wäre es ihm gestattet, den hehren Zielen der Tafelrunde zu dienen:
Daher habe der weise König ihm, Sigwart, eine Reise in sein innerstes Ich auferlegt um sich selbst und damit alles zu erkennen, was in den Tiefen seiner Persönlichkeit schlummere.
Eine Reise? Und ein ‚Seminar‘ dort. Ein ‚Seminar‘, was soll das denn sein? Das wissen wir auch nicht, aber Dinge, die erst in Zukunft erfunden werden, bereits heute zu nutzen, sicherlich vorteilhaft. Und wo? Irgendwo im Süden…
Im Süden, denkt sich Sigwart, das klingt ja schon krass nach Wärme, Wein, Weib, Gesang und lockeren Sitten, könnte super agil werden. Warum nicht? Und wie dort hin? Ihm werde das ganz spezielle Ross Hufsturm für die Dauer seiner Reise überlassen.
Herunter mit der Zugbrücke und los! Sigwart völlig überrascht ob der Geschwindigkeit und des Komforts, den er im Sattel von Hufsturm genießt: Kein normaler Gaul! Statt „Hoppel di Hoppel“ mit zu erwartenden Schwielen, ein sanft-schnelles Dahingleiten. Das fühlt sich doch gewaltig nach adaptiver Federung und hochgenauer Navigation an.
Denn über noch so schroffe Berge findet Hufsturm stets den besten Pfad, meidet Staus und tiefe Schluchten, wo üble Wegelagerer ihr Unwesen treiben konnten.
Immer weiter Richtung Süden, das Wetter wärmer, die Luft angenehmer, seine Stimmung hebt sich. Nach wenigen Stunden bereits stehen Ross und Reiter vor einer riesigen Burg mit hohen Mauern und einem eisenbeschlagenen Tor, bewacht von einem mächtigen Drachen voll knöcherner Schuppen und wehrhafter Rückenpanzerung. Sicherlich nicht zu spaßen mit dem.
„Ab hier“, meint Streitross Hufsturm ganz formell, „ab hier bist Du auf dich allein gestellt, du übernimmst die Verantwortung für dich selbst!“
Gesagt, getan: Forsch und überheblich zugleich, wie ein Jung-Ritter eben, begehrt er mit erhobener Stimme Einlass. Der Drache mustert ihn gelangweilt und entgegnet, er sei Wächter dieser Burg, habe den schwarzen Gürtel im Feuerspeien und keiner komme da hinein, ohne dass man wisse, wer er sei und was er hier wolle.
Des Ritters Sigwarts Kamm schwillt ungebührlicher Zurückweisung halber heftig an, noch auf hohem Ross greift er wütend nach seinem Schwert, um sich gewaltsam Zugang zu verschaffen. Doch kaum das Schwert noch ganz gezogen, spürt er einen Schwall siedend heißer Luft und sein geliebtes Schwert tropft ihm weißglühend vom Griff.
Überrascht und anerkennend zugleich muss Ritter Sigwart erkennen, dass Drachen wohl zukünftiger Bauart sich nicht mehr mit ein bisschen Feuer herumspeien abgeben, sondern hier wohl ein Plasma-Werfer mit wohlgezieltem Strahl zum Einsatz gekommen war.
Auch als er spontan zum Bogen greift und eben einen todbringenden Pfeil einlegen will, rührt sich der Drache keinen Deut vom Fleck. Ein klitzekleiner Plasma-Hauch genügt, um die Sehne des Schießgeräts durchzuschmoren, wodurch sich der Bogen mit einem sanften „plopp“ wieder friedlich entspannt.
Seinen Dolch lässt Sigwart nun tunlichst stecken, dieses Andenken an seinen Vater soll ihm Glück bringen und nicht sinnlos dahinschmelzen.
„Ich bin „Drako“, stellt sich der Drache vor. Und du?“ „Mein Name ist Sigwart, Jung-Ritter mit Schlachtross Hufsturm“, die artige Antwort, „auf der Suche nach sich selbst.“ „Geht doch! Warum sagst du das nicht gleich und bevor du mit Schwert und Bogen rumfuchtelst? So einer wie dich ist hier noch nicht aufgekreuzt. Was soll’s, Hauptsache was Neues! Komm‘ rein und sei erst mal willkommen!“
Der Drache öffnet mühelos das schwere Tor und Sigwart reitet stolz, wie es sich für einen Ritter gebührt, in den Burghof ein. Ein Zwerg mit riesigem Pilzhut, fast so groß wie der Zwerg selbst, steht in der Mitte des Platzes und begrüßt ihn freundlich.
Plötzlich war ihm, als sei dieser Zwerg auf doppelte Größe gewachsen. Erst jetzt wurde er dessen gewahr, dass er nicht mehr im Sattel und hoch zu Rosse saß, sondern auf eigenen Beinen stand und sein Schlachtross Hufsturm sich unter ihm federleicht in Luft aufgelöst und sicherlich in einem standesgemäßen Pferdestall wieder re-materialisiert hatte. Vielleicht doch ein Cyber-Gaul?
„Pilzhut“, mein Name. „Im Stande eines Oberzwergs bin ich Herr von Burg Aura und bitte dich näherzutreten.“ Sigwart steht nun vor der nächsten schweren Eisentür und blickt hoch zu einem mächtigen Turm.
„Das ist der Turm der Erkenntnis. Er ragt weit in den Himmel und mit seinem Fundament aber auch tief hinunter in den Berg. Er beherbergt mannigfache Keller und Gewölbe. In einem davon ein ganz besonderes Fass, nämlich dein spezielles Fass, extra aus Eichenholz für dich gefertigt!“ „Ein Fass für mich, echt jetzt?“, Sigwarts bange Frage.
Nun ja, meint Pilzhut, unser erstes Fass überhaupt, hoffentlich ganz dicht. Auf Wunsch der Tafelrunde: Experiment zur Auswahl fähigen Personals. Mal sehen, wie diese neue Fass-App so läuft.
Du hast den Vorzug, der Erste zu sein, der diese Prüfung bestehen darf. Als Jung-Ritter hast du doch sicherlich nichts gegen neue Erfahrungen mit gewissem Risiko?“ Sigwart fühlt sich, als habe ihn ein nasser Schwamm mitten ins Gesicht getroffen.
Pilzhut und Sigwart, letzterer eher zögerlichen Schrittes, steigen eine steinerne Wendeltreppe hinab, machen ein paar Schritt in einen aus dem rohen Felsen gehauenen Gang und stehen schon wieder vor einem Tor aus Eichenholz, schwer mit Eisenbändern beschlagen. Bereits die dritte Firewall, analoge Sicherheit wird hier wohl großgeschrieben.
Oberzwerg Pilzhut berührt nur kurz den riesigen eisernen Ring in der Mitte des Tors, dieses öffnet sich langsam und knarrend und Ritter Sigwart bleibt bei dem Anblick der Mund offenstehen und der Atem weg…
In einem steinernen Gewölbe ein übergroßes Fass, dessen Inhalt durch ein Fenster in der Fasswand gut sichtbar.
Oben am Fass sitzend ein Zwerg mit grünem Hut, der aus einem Vorratskrug eine goldfarbene Flüssigkeit in das Fass fließen lässt, an dessen unterem Ende ein Abflusshahn, den ein Zwerg mit rotem Hut geschäftig auf- und zudreht. Was einmal abgeflossen, bildet eine Lache und verschwindet für immer in den Spalten des steinernen Bodens.
Oberzwerg Pilzhut: „Darf ich vorstellen: Oben am Fass Zwerg Hubert von Reintropf, regelt den Zufluss, am Abflusshahn Olaf von Wegfließ. Olaf!! Dieser schreckt hoch und beide verneigen sich respektvoll.
Auf einer Sitzstange ein prächtig farbiger Papagei, sein Blick fest auf den Pegel im Fass geheftet. Das ist Buntfeder, Bewacher des Pegels und Alarmglocke bei Ebbe im Fass.
„Wir vom Stand der Zwerge“, erklärt Oberzwerg Pilzhut, „wir wachen über den Pegel dieser goldfarbenen Flüssigkeit, des wertvollsten Elixiers auf der menschlichen Welt überhaupt, das unabdingbare Fluidum für deine Existenz als Mensch.
Ohne dieses Elixier bist du nichts und niemand.
Alles innerhalb dieser Burgmauern, der Drache, wir Zwerge und dein Ross leben als Illusion in einer Aura, wie die ganze Burg deswegen auch heißt. Hufsturm ist nicht einfach so verschwunden, sondern in die Aura hochgeladen und seine Existenz dort in einer verschlüsselten Datei hinterlegt.
Die neue Psycho-App soll dir zeigen, wodurch sich dein Fass füllt oder leert und was der Pegel darin für dein Lebensgefühl, deine Bewusstheit und deine Intelligenz bedeutet. Was du unter Stress alles anstellst, keine Ahnung, wird sich zeigen. Jedenfalls, so lernen wir alle und du dich selbst am besten kennen.
Papagei Buntfeder? Ach ja, wenn du dir kaum Erfolge, dafür zu viel Mühe und Frust eingehandelt hast, also zu wenig rein ins Fass, dafür unten zu viel rausgeflossen ist und fast kein Elixier mehr bleibt, wird Buntfeder erst nervig herumtrippeln und schließlich loskreischen, um dich vor weiterem Verlust zu warnen. Wie wenn dein Tank auf Reserve geht und zum Erbarmen piept.
In der Aura unserer Burg finden Illusion und Wirklichkeit fließend zusammen, es können sich Gedanken, Ideen, aber auch Gefühle und Sinnfragen frei und ohne die sonst unvermeidlichen menschlichen Hemmungen zeigen.
Von der langen Reise musst Du doch hungrig wie ein Wolf sein? Setz dich doch zu uns an den Tisch!“ Zwerg Pilzhut nimmt selbigen Hut ab und poppt sich auf doppelte Größe, damit er weit genug über die rohen Bohlen des Bauerntischs ragt, besser an seinen Humpen kommt und bequemer sitzen kann. Leicht skalierbar, ein Vorteil, digital unterwegs zu sein…
Am selben Tisch im Burghof weitere, zum gemeinsamen Mahl ebenfalls aufgepoppte Zwerge. Vor lauter Hunger Sigwarts Elixier bedenklich niedrig, dafür der Genuss des groben Brotes und frischen Wassers aus irdenem Krug ein besonderer Genuss.
Was Sigwart nicht sehen kann: Je genussvoller das Mahl, desto mehr Elixier gießt Zwerg Hubert von Reintropf ins Fass und lässt den Pegel schnell ansteigen. Welch herrliches Gefühl, nach solch bohrendem Hunger wieder richtig gesättigt zu sein!
„Damit du es weißt“, meint Oberzwerg Pilzhut vertraulich: „Was wir Zwerge da in dein Fass tropfen lassen, dieses Elixier, stammt aus dir selbst. Es ist die Belohnung dafür, dass du deinen nagenden Hunger stillen konntest. Für alles, was du erfolgreich tust, was deine Bedürfnisse stillt oder Spaß und Freude macht, wird dir da innerlich dieses Elixier ins Blut getröpfelt und lässt dich schöne Gefühle erleben“.
Frontal in die erhebenden Gefühle von Sigwart hinein geht plötzlich mit ohrenbetäubendem Kreischen der Papagei los: Trippeln, Flattern, roter Alarm! Was geht? Nach Höhenflug nun Katzenjammer? Widrige Gedanken schwirren unversehens in Sigwarts Kopf herum und ziehen ihn immer weiter runter:
Wer oder was bin ich denn? Ein Ritter mit Schwertgriff statt Schwert und einem Bogen ohne Sehne? Eine lächerliche Figur, weniger als ein Nichts!
Zwerg Olaf von Wegfließ am Abflusshahn hat wieder mal gepennt und beim plötzlichen Aufschrecken aus einem Reflex heraus den Abflusshahn voll und ganz aufgestoßen. Das Elixier in einem Augenblick nur so von dannen gesprudelt und im Boden versickert, der Pegel im Fass nur noch fingerbreit.
Das der Grund für Sigwarts tiefe Verzweiflung? Oberzwerg Pilzhut knallt beherzt den Abflusshahn zu: Wow! Absturz nach Höhenflug durch Dachschaden beim Abflusszwerg nicht ungewöhnlich, kann mal passieren, ist ja erst die Beta-Version der App, aber gleich so krass?
Zum Glück hat Drache Drako in der Aura alles mitbekommen: „Verdammt“, donnert sein geharnischter Fluch durch die Community, „so viel digitaler Krims-Krams, den keiner je braucht, aber wo ist dieser verdammte Rückgängig-Knopf? Und mit welcher Kralle?“
Irgendeine so künstliche wie für Ritter und Zwerge gleichermaßen unverständliche ‚Intelligenz‘ klinkt sich nun oberschlau in die Aura ein und gibt zu wissen, dass gleichzeitig zwei Krallen auf zwei bestimmte Knöpfe gedrückt werden müssen, um nicht versehentlich alle mitsamt der ganzen Burgwelt für immer zu löschen.
Nunmehr besagte Krallen durch Drache Drako sensibel gesetzt und kaum länger als drei Sekunden gedrückt, Sigwarts Fass füllt sich wie von Zauberhand wieder und er selbst spürt, wie die leere Schwertscheide tatsächlich wieder anschwillt, sein Bogen unversehens seine Sehne und er selbst sein Wohlbefinden und Zutrauen wiedererlangt.
Im selben Moment, überrascht und von bodenloser Action überfordert, Hubert von Reintropf dabei, besonders viel Elixier auf einmal einzufüllen, der Füllkrug entgleitet ihm, Elixier ergießt sich in ungebremstem Schwall in Sigwarts Fass und füllt es in wenigen Augenblicken wieder auf. Ein harscher Blick von Oberzwerg Pilzhut, hilfloses Schulterzucken von Zwerg Hubert..
Sigwarts psychische Wiedergeburt bloß wegen mehr Elixier im Fass? Tatsächlich! Mit steigendem Elixier fühlt Sigwart seine Energie zurückkommen. Der Pegelstand im Fass bereits über die Hälfte…
Noch bevor Sigwart vor lauter Elixier-Überschwemmung ins Träumen gerät und beginnen würde, flauschige Luftschlösser zu bauen und nicht mehr von dieser Welt zu sein, ein Knuff von Oberzwerg Pilzhut in dessen Seite mit der Ansage, jetzt wo sein Elixier so hochstehe, wäre es wohl an der Zeit, mit dem Testen der App ‚Selbsterkennung‘ fortzufahren.
Ein Wink an Olaf am Abflusshahn, bisschen runter mit dem Pegel vom Elixier auf etwa halbe Höhe vom Fass und schau‘ ma mal…
Bei halbem Pegel Sigwart im inneren Gleichgewicht und ganz entspannt im Hier und Jetzt. Am besten in freier Natur. Keine Sorgen, kein Stress und nichts, was ihm belastend durch den Kopf gehen müsste: Einfach chillen und sich körperlich und psychisch ganz und gar gehen lassen und regenerieren. Weder Lust noch Drang, irgendwas zu performen.
Wie langweilig, na warte – denkt sich Oberzwerg Pilzhut: Ein deutlicher Wink an Zwerg Olaf am Abflusshahn und schon der Pegel des Elixiers im Fass um eine weitere Handbreit gefallen.
Wie aus einem Traum erwacht und wieder zur Realität zurückgefunden, Sigwart aufgeputzt und lebhaft, sichtlich motiviert und im Vollbesitz seiner mentalen Kräfte. In seiner Vorstellung sich auf dem Turnierplatz wähnend, dort mit gekonnter Schwertführung übungshalber Gegner um Gegner in den Sand geworfen, die Zielscheibe mit seinen Pfeilen geradezu zerfetzt und aus dem Augenwinkel selbstbewusst mit einem Burgfräulein heiß geflirtet. Auch seine Ritterbrüder würde er am liebsten umarmen! Ein Pegel auf drittel Fasshöhe lässt Sigwart das Leben in vollen Zügen genießen.
Für Oberzwerg Pilzhut die Lektion klar: Bringe dein Elixier auf drittel Höhe und lege los, bessere Zeiten kann es nicht geben!
Zukunftspläne, nichts auf die lange Bank geschoben, energiegeladen und selbstbewusst die beste Voraussetzung, weiteres Elixier zu gewinnen. Energie fließt und es tut sich was…
Weiter in der Selbstfinde-App: Den Pegel nun eine weitere Handbreit tiefer gelegt, Papagei Buntfeder trippelt bereits aufgeregt, Oberzwerg Pilzhut ruft im nun spürbaren Elixier-Mangel zum Sparen auf:
Denken ab jetzt nur noch im Hier und Jetzt, Zukunft kann warten, keine Experimente – und alles, was einmal Elixier erbracht hat, immer und immer wieder in Anspruch genommen. In schierer Gewohnheit erstarren und alles endlos wiederholen, keine Energie mehr für Neues.
Mit sinkendem Pegel seines Elixiers suchen Sigwart Gefühle von Überforderung und Stress heim, Ängste lähmen ihn und bereits das tägliche Leben eine
Bürde. Auf dem Turnierplatz nicht mehr die ganze Durchschlagskraft, mit dem Bogen viel zu oft das Schwarze der Scheibe verfehlt und obendrauf auch noch Ängste, Zweifel und entmutigende Gedanken wie:
Wird die Rückkehr zur Tafelrunde unbeschadet gelingen, wird das alles hier reichen, in die Runde aufgenommen zu werden? Was ist mit meinen Träumen für die Zukunft?
Stress und Ängste machen es immer schwerer, sich zu konzentrieren: Sigwart unruhig, dünnhäutig und in seinen Gefühlen wie hinter Milchglas. Flirten weit weg, soziales Empfinden auch. Das Selbstwertgefühl angeknackst, Verstand und Vernunft am Schwinden, Selbstvorwürfe. Kaum auszuhalten!
Pause oder was, fragt sich Oberzwerg Pilzhut, bevor es noch schlimmer kommt? Spontane Entscheidung: „Augen zu und durch!“
Weiteres Elixier versickert im Boden, der Pegel höchstens noch drei Finger breit über Fassboden: Papagei Buntfeder kreischt nun ohrenbetäubend, in letzter Sekunde knallt Oberzwerg Pilzhut den Hahn wieder zu, weil Abflusszwerg Olaf schon wieder rechts und links verwechselt hat, denn nun darf nichts, aber auch gar nichts mehr verloren gehen, sonst ist aus die Maus.
Und Sigwart? Nicht mehr er selbst: Erst ängstlich und unsicher, dann plötzlich wütend und angriffslustig. Ohne jede Vernunft trotzig und uneinsichtig wie ein Kind. Sein Auftreten eines Ritters schlichtweg unwürdig. Unberechenbar, alles kann passieren, was tun?
Uiiihh… Oberzwerg Pilzhuts Gesicht verfärbt sich vor Verlegenheit leicht grünlich: Abflussventil fest zu, nichts, aber auch gar nichts darf mehr abfließen, sonst gibt’s Depression oder Mord und Totschlag. Denn bei Tiefststand zeigt sich die dunkle Seite von Sigwart völlig ungeschminkt.
Ein Gedankenblitz durchfährt Pilzhut: Wahrnehmung, Verhalten und Empfinden von Sigwart wird doch sicherlich durch einen biologischen Algorithmus in seinem Gehirn bewerkstelligt. Ist genug Elixier im Fass, können die Rechenvorgänge mit vielen Inputs zugleich arbeiten, die Realität sauber abbilden, sich großen Überblick verschaffen, aussichtsreiche Pläne erdenken und nebenbei auch für menschenfreundliches Verhalten sorgen.
Aber mit Ebbe im Fass muss der Algorithmus sparen, kann aus Energiemangel nur noch weniger Anspruchsvolles bewältigen und eben noch die zu seiner eigenen Existenz allernötigsten Inputs berücksichtigen: Umfassende Übersicht geht verloren, die Realität wird durch Scheuklappen immer mehr verengt und mit zu wenigen Inputs schließlich zur kurzsichtigen Ideologie verfälscht. Wird Sigwart im Elixier-Mangel leider nicht bewusst, er beharrt eigensinnig auf seinen höchst beschränkten Vorstellungen, selbst wenn sie der offensichtlichen Wirklichkeit frontal widersprechen.
Je tiefer der Pegel, sinniert Pilzhut, desto mehr lebt Sigwart in seiner eigenen, von seinem Algorithmus nur für ihn geschaffenen Welt. Sein Verhalten dort zwanghaft, denn nun geht es um sein psychisches Überleben: Elixier muss her, koste es, was es wolle…
Wie wäre denn ein Zufluss mittels Illusion einer Hilfe durch ‚höhere Mächte‘?
Einem allmächtigen Gott vielleicht? Oder einem Talisman, der Kraft gibt? Oder Kügelchen, die Wunder wirken sollen? Ist Gott womöglich nicht über den Wolken, sondern als pure Illusion und rettendes Urprogramm in Sigwart selbst?
Dessen Hilfe bei grenzwertig niedrigem Pegel zwangsläufig und täuschend echt vom eigenen Algorithmus zur letzten Rettung in Szene gesetzt?
Elixier fließt durch Gottesglauben zu, alles nur eingebildet?
Wow! Das haut aber rein!
Sich einer ‚höheren Macht‘ oder gar einem ‚Erleuchteten‘ anzuvertrauen, ein kaum abschätzbares Risiko, manipuliert zu werden und das eigene Denken zu verlernen?
Nicht wenige sah Sigwart verbohrtem Irrglauben anheimfallen mit zweifelhaften Praktiken und Heilsversprechungen.
Obskure Gruppierungen, dubiose Heiler und Scharlatane nutzten Orientierungslosigkeit und Ängste ihrer Schäfchen im Elixier-Mangel schamlos aus, indem sie ewiges Leben oder Erleuchtung versprachen um sich zu bereichern, sich überlegen zu fühlen und ihre Machtfantasien auszuleben.
Aberglauben aller Art, Amulette und Maskottchen weit verbreitet. Zu wenig Realität, zu viel Risiko, sich Elixier durch Illusion und Einbildung ‚auszuleihen‘? Und durch Wohlverhalten wie bei den zehn Geboten Zins zu zahlen?
Leicht gesagt, aber wenn sonst nichts mehr bleibt?
Fehlverhalten und Misserfolge selbst verschuldet? Verantwortung dafür übernehmen? Zu wenig Elixier dafür!
Also müssen irgendwelche missliebige Andere für Misserfolge herhalten als Sündenböcke, denen man eigenes Versagen aufbürden und damit deren Elixier stehlen kann.
Im Übungsduell schon zum dritten Mal im Sand gelandet, das muss am Schwert liegen. Die meisten Pfeile wieder daneben, die Scheibe hängt doch falsch! Und diese dunkle Gestalt da drüben hat mich sicherlich mit bösem Blick um meinen Erfolg gebracht! Ergreifen und massakrieren, dann würde ich ganz bestimmt wieder ins Schwarze treffen.
Mit Hexen soll das doch auch klappen, sagt man?
Oberzwerg Pilzhut entsetzt darüber, wie schnell und zwanghaft Sigwart zum Urprogramm ‚Sündenbock‘ greift, wenn sein Elixier nur tief genug abgesunken ist. Der letzte Rest an Vernunft und Mitgefühl:
Weg damit! Dafür anschwärzen, lügen, betrügen, mobben, mit Gewalt Anderen Elixier abzwingen.
Sie niederdrücken um selbst über Wasser zu bleiben!
Immer peinlicher für Oberzwerg Pilzhut, Sigwarts ‚Schweinehund‘ aus dem Sumpf seiner innersten Antriebe so offenbar werden zu lassen. Der fährt mit ausufernder Überheblichkeit unbeirrt fort:
Der faule Knappe da, einen Humpen Met, aber dalli! Was schert mich das niedere Volk? Schaffen und Klappe halten ist eure Bestimmung! Wer aufmupft, ist selbst dran schuld, wenn er massakriert wird.
Und dass ihr alle es wisst: Euch da oben soll von mir aus der Teufel holen, ich lasse mich nicht mehr gängeln, mich nicht impfen, noch nicht einmal zählen.
Seht ihr Verblendeten denn nicht, dass wir alle von einer Bande mächtiger Verbrecher regiert werden, die uns versklaven wollen und in finstersten Verliesen selbst schrecklichste Verbrechen…
Ein heftiger Wink an Zwerg Hubert von Reintropf, schnell einen ganzen Krug Elixier auf einmal ins Fass gekippt, bevor Sigwart auf die Idee kommt, in seinem Wahn auch noch Burg Aura abzureißen oder zur Selbstzerstörung mit dem Kopf gegen die Burgmauer zu rennen.
Ohren zu und durch! Noch eine ganze Weile bis Sigwart wieder gänzlich zu sich gefunden hat, total fertig, im Kopf wie Gelee und irritiert über sich selbst. Erscheint ihm wie ein böser Traum. Das war doch nicht er!
Doch, war er auch, bei grenzwertigem Mangel an Elixier nur noch ausufernde Einbildung und Entgleisungen bis hin zu unmenschlicher Gewalt und rücksichtslosem Machtmissbrauch, zwanghaft aus den Tiefen seiner selbst, von ihm selbst nicht mehr zu beherrschen.
Pilzhuts Erkenntnis und Fragen zugleich:
Der Mensch ist nicht gut oder böse, er ist so, wie es die Situation erfordert und man ihm zulässt: Wenn alles gelingt und viel Elixier im Fass, ein Leichtes, ‚gut‘ zu sein.
Aber bei fast leerem Fass, unter Stress und Ängsten?
Gerangel am billigen Krabbeltisch, Toilettenpapier gehortet… Wohlgelittene Freunde werden zu egoistischen Feinden…
Ganz ohne Erfolge und Anerkennung kein Lebensglück?
Der Mensch, getrieben von der Jagd nach Elixier?
Der Eine hält psychischen Abflüssen länger Stand, der Andere wird schon bei Kleinigkeiten zum Tier?
Selbstzweifel beschleichen Oberzwerg Pilzhut: Ein Humpen Met oder ein rauschiges Pfeifchen vom Druiden hätten wohl genügend Elixier ins Fass bringen und die Krise dämpfen oder gar verhindern können.
Aber Erfolge vortäuschen durch irgendwelche Drogen? Und nicht mehr loskommen davon? Schließlich die Gesundheit opfern? Puh..
Sigwarts vorwurfsvollen Blick lässt Oberzwerg Pilzhut mit der banalen Bemerkung an sich abtropfen, was er denn wolle, er lebe doch noch und wisse nun, dass tief in seinem Inneren ein scheußliches Monster schlummere…
Trotzdem fragt sich Pilzhut, ob sich denn Ritter bei Elixier-Tiefststand generell so heftig gebärden, hat er doch mit gewissen Extremen gerechnet, aber der ‚normale‘ Sigwart?
Das war ja oberkrass und nicht mehr menschlich! Wozu einer fähig ist, zeigt sich eben erst unter Belastung und Niedrigstand an Elixier. Oder wenn er überlegene Waffen und Macht hat…
Für Oberzwerg Pilzhut klar, dass das Fass sich keinesfalls ganz leeren darf, da der Algorithmus dann nicht genügend Energie mehr hat, das tägliche Leben abzuwickeln, in der Not schließlich kapituliert und eines Tages nicht davor zurückschreckt, seinem Menschen sogar vorsätzlich zu schaden:
Ihn selbstmörderische Risiken eingehen zu lassen, sich zu prügeln, sich zu isolieren, bis aufs Blut zu ritzen oder in Depression und Burn-Out fallen zu lassen, alles unter der Gefahr, sich eines Tages selbst auszulöschen.
Fazit für die App: Der Mensch ist so, wie er ist, zeigt gute und weniger gute Seiten je nach seinem Pegel an Elixier..
Also bleibt nur, ihm dies bewusst zu machen und genügend ergiebige Quellen für dieses wertvolle Elixier zu erschließen, um Tiefststände mit schwerem Fehlverhalten tunlichst zu vermeiden.
Aber wer sollte denn ausufernde Gewalt bei flauem Pegelstand verhindern und dass Anderen Elixier vorenthalten, gestohlen oder geraubt wird? Unterdrücken und mobben? Zuallererst wäre es doch Sigwarts Sache, seinen Pegel nicht so tief fallen zu lassen, dass er sich als Elefant im Porzellanladen auf Kosten seiner Mitmenschen Elixier verschaffen und diesen Schaden zufügen muss?
Von Sigwart kann man verlangen, dass er selbst seinen Pegel auf Maß hält und in Notsituationen um Unterstützung in Form von ‚sozialem Elixier‘ bei Freunden oder der Tafelrunde selbst nachfragt. Nach freiwilliger Zuwendung eben…
Und wenn er es nicht zustande bringt und bei fast leerem Fass und Dauerstress alle Grenzen überschreitet? Dann muss eben die Tafelrunde ihm Grenzen setzen und Sigwart Schwert und Bogen aberkennen, mit denen er nur noch Schaden anrichten würde.
Also, Elixier muss her! Aber woher? Weiß ich, was Sigwart Elixier bringt und was ihn runterzieht? Ist doch so was von persönlich!
Zu spät, ihn selbst zu befragen, denn Sigwart hat sich bereits auf ein Schafsfell gebettet und gut beschützt in den wohlverdienten Erholungsschlaf sinken lassen.
Das bringt Pilzhut auf eine Idee: Wir sind doch alle digital mit der Aura vernetzt. Drache Drako hat doch extra einen ‚blauen Eckzahn‘ und mit diesem und einem Schuss KI müsste es doch möglich sein, in Ritter Sigwarts Kopf zu lesen, in dem doch alle seine Erinnerungen im Original stecken?
So, wie die das später mit dem Auslesen der Bordcomputer von Autos machen? Datenschutz? Kein Problem, da nur wir hier in der Aura das Zeug lesen können und Sigwart selbst ja nichts davon mitkriegt. Im Schlaf ist der ja selbst am besten vor seinen eigenen Daten geschützt…
Und tatsächlich! Kaum noch richtig verlinkt, erscheint schon Sigwarts Traum von einem Mahl im Burghof mit ein paar guten Freunden: Wasser und Brot machen gleich mal 10 Scheffel Elixier, bei deftigem Hunger mindestens 20 Scheffel drauf. Scheffel? Ein Hohlmaß eigentlich für Mehl und so, brauchbar auch für Elixier. Ein Happen Bärenschinken obendrauf hätte das Mahl wohl mit 30 Scheffeln massiv aufgewertet, ein Küchlein von der Soja-Bohne wäre indes sicherlich unbemerkt geblieben.
Gut, ein Humpen Met hätte schon einen gewaltigen Schub an Elixier mit satten weiteren 50 Scheffeln gebracht, aber der stärkste Zufluss? Für Oberzwerg Pilzhut keine Überraschung: Mindestens 150 Scheffel zusätzlich trug allein schon die angenehme Gesellschaft beim Mahl bei. Ob über Wind, Wetter, Waffen, Duelle, schöne Burgfräulein oder was auch immer gesprochen, sich in einer Gemeinschaft unter Freunden aufgehoben und geschätzt zu fühlen, einfach Höchstertrag.
Viele Scheffel brachten Sigwarts Mitstreiter aus der Ritterschule ein, unreife, energiegeladene Burschen, unter bescheuerten Risiken Abenteuer suchend. An Bewegung zum Abreagieren mangelte es auf dem Turnierplatz zum Glück nicht.
Die Schein-Kämpfe forderten heraus und gaben überschießender Energie Auslauf und Rahmen, Ziel und Sinn. Am meisten Elixier floss Sigwart aus neuen Fertigkeiten und Gedanken an eine gute Zukunft zu.
Aber auch große Abflüsse hatte Sigwart zu verkraften: Krankheiten oder Unfälle rafften die geliebten Waffenbrüder dahin, Enttäuschungen, Krisen und Unterdrückung in Familie und Gemeinschaft ließen unzählige Scheffel Elixier schon in Sigwarts Jugend schadenbringend davonfließen.
Der tägliche Kampf um das lebensspendende Elixier allgegenwärtig. Die einen erfolgreich, andere wieder im Mangel an Elixier zu Bedürftigkeit und Melancholie verdammt.
Ging Sigwart in der Not der Glaube an sich selbst verloren, blieb ihm nur, zu beten und die in ihm wohnende ‚Illusion Gott‘ um Beistand anzuflehen. Glaube und Hoffnung als göttliche Zuwendung von Elixier, im schweren Mangel oft noch der einzige Zufluss und Halt.
Nur Illusion? Und wenn schon! Hauptsache, es hilft! Wie auch die Kräuterchen und Tränke des Druiden..
Sigwarts Erinnerung an herrliche Reisen zu befreundeten Burgen im sonnigen Süden! Dort lockten leckere Speisen, süßer Wein und lockere Sitten. Heißblütige Techtel-Mechtel oder auch die große Liebe sorgten für Spaß, Freude und – unzählige Scheffel Elixier, die zuflossen – oder auch in Zwistigkeiten, Trennungen oder anderen Tragödien gleich eimerweise verloren gingen.
Respekt und Ansehen, Erfolge auf dem Turnierplatz, siegreich vermiedene Schlachten, ein sinnhaftes Leben und Wirken für den König? Schön und gut. Doch tauchen aus tiefster Seele sehnsüchtige Träume auf und nehmen immer deutlicher Gestalt an:
In stilvollen Gemächern ein schönes Burgfräulein als liebe Gemahlin, die es zu schätzen und zu beschützen galt: Beflügelnde Gedanken schweben wie ein sommerlicher Windhauch durch seinen Kopf und lassen ihn selig lächeln: Nicht mehr zu zählende Scheffel Elixier…
Genug! Unzählige größere oder kleinere Quellen hätten sich noch aus Sigwarts Verzeichnissen auslesen lassen. Oberzwerg Pilzhut meint nun genug zu wissen um – wenn wieder erwacht – Sigwart freimütig das Ende seiner Prüfungen mitteilen zu können.
Er sei voll Energie, festen, offenen und wohlwollenden Charakters, habe sich eine Vielzahl von Quellen an Elixier erschlossen und sei für einen Aufstieg in die Tafelrunde wärmstens empfohlen. Nicht geraten sei es, ihn in Stress und zur Weißglut zu treiben, denn dann könne man gleich für gar nichts mehr garantieren…
Sigwart nun beim Packen. Hufsturm, mit schnellem WLAN noch aus der Aura heruntergeladen, hurtig materialisiert und vor dem Losreiten mit neuester Software upgedated.
Ein wehmütiger Wink an die Zwerge und Drache Drako, ein letzter Blick auf die Burg. Der Rückweg easy und ohne Besonderheiten.
Bei Vollmond Sigwarts Aufnahme in die Tafelrunde vollzogen.
Stets sein Fass vor Augen und auf seinen ‚Papagei‘ hörend fühlt sich Sigwart einfach nur prächtig, hat er doch auch seinen Umgang neu sortiert anhand des Elixiers, das es ihm bringt – oder nimmt. Gemäß Denkanstoß ‚Elixier‘ ganz bewusst nun sich selbst und auch andere Menschen zu verstehen, hat seinen Horizont geweitet und macht ihn einfach erfolgreich und glücklich.
Das Fazit:
Auch reichlich zweifelhafte ‚Seminare‘ sind manchmal zu etwas gut…
März 2024 Autor: Dr.-Ing. Wolfgang Issel Alle Bilder: DALL-E3