12 Entscheidungen

Inhalt: Entscheidungen zählen zu den energieintensivsten Rechenoperationen des Gehirns überhaupt, indem in einer bestimmten Szenerie mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten die jeweilige Höhe der Motivation berechnet, verglichen und das bestmögliche Vorgehen ermittelt wird.

Lange kann der überhohe Energieaufwand für die oberen Schichten der neuronalen Netze wie Verstand, Vernunft und soziale Belange nicht aufrechterhalten werden. Wie wird die Software zu einer Entscheidung gelangen? Kann eine KI helfen?

 

Die ‚richtigen‘ Entscheidungen zu treffen zählt zu den lebenswichtigsten und energieintensivsten Tätigkeiten des Gehirns überhaupt. Um in einer bestimmten Situation das bestmögliche Verhalten zu ermitteln, müssen alle verfügbaren neuronalen Ressourcen herangezogen werden.

Gerade in Ausnahmesituationen auch noch möglichst schnell: Den Löffel versehentlich vom Tisch gewischt. Aus dem Augenwinkel das fallende Teil gesehen und blitzschnell zugegriffen. Völlig am Bewusstsein vorbei, keine Zeit für Überlegungen. Wohl fester Teil des Algorithmus, einen fallenden Gegenstand aufzufangen.

Auf dem dunklen Parkplatz überraschend ein Mann: Bleiben oder flüchten? Schnell die Optionen abschätzen und handeln. Lebenswichtig, auch unter Stress die richtige Entscheidung zu treffen.

Ein bestimmtes Szenario: Der Algorithmus spielt verschiedene Varianten durch, berechnet die jeweilige Motivation und entscheidet sich für die beste Option, nämlich die mit dem höchsten Ertrag an psychischer Energie oder dem geringsten zu erwartenden Verlust.

‚Wanderer und Apfel‘: Für welchen Apfel wird sich der hungernde Wanderer entscheiden, wenn gleich zwei davon auf dem Baum hängen? Wären sie beide gleich attraktiv, kein Problem: Der Apfel mit dem geringeren Kletteraufwand liefert die höchste Motivation. Eine einfache Entscheidung.

Der untere Apfel sei nun nicht ganz so schön wie der obere: Was, wenn die Motivationsberechnung auf ein Patt hinausliefe? Der obere Apfel punktet mit Schönheit, aber bei hohem Kletteraufwand, der untere mit minderer Anstrengung, aber mit dem Mangel geringerer Attraktivität. Theoretisch wäre die Motivation die gleiche. Und praktisch?

Der zweite Durchlauf, irgendwann wird sich doch ein Unterschied ergeben? Etwas genauer hinsehen? Werden die Äste mein Gewicht tragen? Hat der Apfel Flecken? Vielleicht führen vertiefte Infos zur Entscheidung?

Stress und hoher Energieverbrauch lässt den psychischen Pegel sinken, der Algorithmus greift zu Sparmaßnahmen.

Die Rechenvorgänge verlagern sich zunehmend auf tieferliegende, energiesparende Schichten mit der Folge, dass Nebensächlichkeiten wegfallen, das Szenario als Ganzes immer gröber gerastert wird und rationale wie soziale Argumente eine immer geringere Rolle spielen.

Immer noch keine Entscheidung? Rechenvorgänge nur noch auf untersten Schichten der neuronalen Netze, wo die Dinge stark vereinfacht wahrgenommen und bewertet werden und sich auch mentale Einstellungen, Ideologien, Ermüdung und schlechte Erfahrungen in die Abschätzung einmischen.

Im Beispiel des Wanderers bedeutet dies, dass er nach vielen Denkschleifen wohl nach dem unteren, weniger schönen Apfel greifen wird einfach, weil er keinen Bock mehr auf geistige Anstrengung und ausuferndes Klettern hat und ihm der bohrende Hunger keine andere Wahl mehr lässt.

Der oben hängende Apfel wäre Luxus und auch ein kleinerer Apfel ist besser als nichts und vor allem – schneller zu haben. Hier kommt auch noch das Urprogramm zum Zug: „Schnapp‘ dir den Apfel, bevor es ein anderer tut“.

Dass ihm der Apfel nicht gehört, er beim Klettern den Baum beschädigen oder selbst herunterfallen könnte, alles weit weg.

Die vom Algorithmus zur Berechnung der Motivation herangezogenen Werte von „Belohnungserwartung“, „Kletter-Aufwand“ oder „Klettererfahrung“ sicherlich nur höchst ungenaue Schätzungen.

Wer kann schon wissen, ob der Apfel tatsächlich das hält, was er verspricht, ob das Klettern tatsächlich leicht vonstattenginge oder zur riskanten Rutschbahn würde? Oder man unter Stress überhaupt die Konzentration aufbrächte, alle Einflüsse unter einen Hut zu bringen?

Wie geht man im täglichen Leben mit den hohen Unsicherheiten in der Abschätzung der Motivation um?

Durch Erfahrung, Wissen und vor allem Verstehen der Zusammenhänge.

In der Welt ist so gut wie nichts eindimensional. Es gilt Zusammenhänge zu erkennen und Abläufe zu verstehen, unter anderem auch die eigenen Denkvorgänge. Unsicherheiten in der Einschätzung der Einflussgrößen sind das Eine, Ängste, die manche Handlungsvarianten von vorneherein ausschließen, das Andere.

Nach dem „Master“ überlegt sich ein junger Mann, wie er sein weiteres Arbeitsleben gestalten möchte. Vernünftigerweise würde er möglichst viele Wege durchprüfen: Selbständig, angestellt, eher theoretische oder mehr praktische Arbeit, wie familienfreundlich, wie seine „Work Balance“ beachten, ob er sich seinen Freundeskreis erhalten oder auch einen Ortswechsel in Betracht ziehen würde und vieles mehr.

Ergebnis: Alle Wege checken, sich Infos holen, bis genügend Daten für eine realistische Entscheidung vorliegen.

Und in der Praxis? Er ist mehr der kreative Typ und traut es sich nicht zu, jeden Tag acht Stunden im Büro ‚abzusitzen‘. Und überhaupt angestellt? Bereits im Praktikum hat er unter einer Niete von Abteilungsleiter gelitten, der seine Ideen blockiert und ihn deswegen sogar gemobbt hat. Von solchen Faxen hat er genug, angestellt kommt nicht infrage.

So engt sich die Auswahl durch Ängste so stark ein, dass eine Entscheidung auf schlechter Grundlage fallen wird. Ängste beeinflussen gleichermaßen den Umgang mit Technik. Ein bekanntes Szenario:

Eine neue Küche muss her! Die Entscheidung: Kochen mit Gas oder elektrisch mit Induktion? Aber Strom gibt doch Strahlung ab, da bleibe ich lieber beim Gas. Gefahr und schlechte Luft, ach ja? Eine Mikrowelle kommt mir auf keinen Fall ins Haus. Da wird die Nahrung ja total „verstrahlt“.

Ein bisschen Physik hätte wohlgetan…

 

Große Bedeutung bei der Berechnung der Motivation und damit auch für Entscheidungen hat die Abschätzung des eigenen Wissens und Könnens im Vergleich zu den Anforderungen: Kann ich wirklich so gut klettern oder bilde ich mir das bloß ein und werde eine unliebsame Überraschung erleben?

Mit einer bisher unbekannten Aufgabe konfrontiert schätzt sich der unbefangene Mensch richtig ein, indem er erkennt, dass er nichts weiß. Er strengt sich an, lernt dazu, versteht Zusammenhänge und reichert Wissen und Verstehen bis hin zum Expertentum an. Wie bei jedem Lernvorgang eben.

 

Die gleiche Situation: Unversehens sieht sich eine Person auf eine Stelle mit großer Entscheidungsbefugnis gesetzt, die ihre eigene Ausbildung oder Erfahrung in diesem Handlungsfeld weit übersteigt. Die erste Besprechung, die erste Fragestellung, die ersten Ratgeber:

Sich zugeben zu müssen, nichts zu verstehen, würde den Pegel an psychischer Energie zu tief ins „Tal der Tränen“ fallen lassen. Der Algorithmus greift ein und es kommt zum „Dunning-Kruger“-Effekt: Obwohl ich nichts weiß, bilde ich mir ein, so viel wie die anderen oder sogar mehr als diese zu wissen.

Die oft beobachtete Spitze links beruht tatsächlich auf der puren Einbildung, man verstünde etwas von der Sache.

Obwohl gänzlich unwissend, überschätzt der Überforderte seine eigene Kenntnis von dem ihm unbekannten Thema ohne jeden Grund und überraschend stark bis zum „Gipfel der Dummheit“.

In Wirklichkeit kratzt er jedoch höchstens an der Oberfläche und weiß nichts.

Wieder so eine Finte des pfiffigen Algorithmus, um einem Einbruch an psychischer Energie vorzubeugen: Wenn ‚sein Mensch‘ schon nichts weiß und überfordert ist, fälscht er eben, wie sonst auch, zu dessen Frommen die Wahrnehmung, schützt nicht vorhandenes Wissen vor und lässt ihn fest daran glauben.

Sobald sich der Unwissende auch nur ein wenig näher mit dem Thema beschäftigt, merkt er, wie wenig er weiß, geschweige denn versteht. Es droht ihm der Absturz ins ‚Tal der Verzweiflung‘, aus dem er nur durch echtes Lernen und Verstehen wieder herauskommt. (Wikipedia)

Im psychischen Mangel krallt sich der Unwissende aber auf dem ‚Gipfel der Fehleinschätzung‘ fest und verweigert jegliche vertiefte Beschäftigung mit dem Thema. Realistische Überlegungen werden bekämpft, weil diese das eigene, sich nur eingebildete Kartenhaus zum Einsturz bringen könnten.

Lieber umgibt sich der Unwissende mit Jasagern, die ihm das Wort reden. Wer versucht, die Realität auf den Tisch zu bringen, läuft Gefahr, als lästig abgestempelt oder gar der Lüge bezichtigt und kaltgestellt zu werden.

Genosse Stalin, in Sibirien gibt es Probleme! Erschießen! Dann gibt es keine Probleme…

Gerade im starken psychischen Defizit kann dieser Effekt aus praktisch jedem Menschen mit unkontrollierter Machtbefugnis schnell einen unbelehrbaren und militanten Fanatiker machen, der durch völlige Fehleinschätzung der Realität für alle zur Gefahr wird.

Das Schlimmste: Je dümmer der Dumme, desto weniger merkt er, dass er dumm ist.

Um sich dessen bewusst zu sein, müsste ja sein im psychischen Defizit geminderter Verstand tätig werden.

Entscheidungen fallen daher oft aus dem Bauch heraus und führen zu vorhersehbaren Misserfolgen. Und wer trägt die Schuld?

Der nach der psychischen Delle durch den Misserfolg wieder aufkeimende Verstand ist immerhin noch gut genug dafür, als Rechtfertigung für das vermeidbare Desaster, dieses irgendeinem Sündenbock aufzuladen: Die Umstände, ungeeignete Mitarbeiter, das konnte man nicht wissen und auch das Wetter war schlecht…

Ungenügende Vorbereitung von Entscheidungen durch unwissende Entscheider mit nachfolgender banaler Rechtfertigung des Misserfolgs mittels des Prinzips ‚Sündenbock‘ verhindert Lernprozesse und Weiterentwicklung. Auch ganzer Gesellschaften.

Schwierige Entscheidungen mit hohem Rechenaufwand ermüden das Gehirn, lassen den Energiepegel sinken und die oberen Denkebenen verstummen. Keine Energie mehr für Überblick, Feinheiten und Nebensächlichkeiten.

Je länger der Entscheidungsprozess dauert, desto gröber die Argumente. Nach stundenlangem Verhandeln zählen nicht einmal mehr diese, sondern wer am längsten wach bleibt. Erwartbare Fehler und Misserfolge werden einem Sündenbock aufgeladen.

Ein Ausweg? Bessere Ausbildung in seinem Arbeitsfeld, gründliche Vorbereitung und verständliche Visualisierung könnte für Überblick und Relativierung helfen. Virtuelle Welten könnten Problemstellungen eingänglicher abbilden. Und die tatsächlichen Hintergründe der ‚Ansichten‘ aufdecken.

Eine spezielle KI orientiert sich an der Realität, könnte Wissen und Erfahrung beisteuern, systematisch die Szenerie nach Handlungsmöglichkeiten bewerten und dadurch Entscheidungen realistischer und weniger stimmungsabhängig machen.

Das Problem ist wieder einmal der Mensch selbst: Wenn er die ‚neunmalkluge‘ KI ebenfalls als ‚lästig‘ einstuft und deren Stecker zieht?

Fazit: Der Algorithmus muss bei der Berechnung der Handlungsmotivation von großen Unsicherheiten ausgehen: Ängste, Einbildung, psychische Defizite und vor allem der ‚Dunning-Kruger-Effekt‘ machen diese Einschätzung noch ungenauer und damit realitätsferner und risikoreicher.

Die Entscheidungen des Menschen beruhen daher allzu oft auf Ängsten, Unkenntnis, Fehleinschätzungen und Missverständnissen.